Der Volksentscheid und seine Vorgeschichte war eine sehr deutsche Angelegenheit. Und Deutschland hat so seine Eigenarten. Dazu gehören schikanöse und antiquierte Dinge wie Residenzpflicht und das Verbot der doppelten Staatsangehörigkeit. Auch kennzeichnend für Deutschland ist ein extrem selektives Schulsystem, das Kinder im Alter von zehn Jahren in die Kategorien „gut, mittel, schlecht“ einteilt und auf entsprechende Schulen schickt. Danach ist das Rat Race aber noch nicht gelaufen. Die Kinder sind permanent mit psychischem Druck durch Abschulen, dem Verweis auf die jeweils untere Schulform, konfrontiert. Der Weg zum Studium oder zu einem berufsqualifizierenden Abschluss kann so auf ewig verbaut werden. War dieses System im Europa des 19. Jahrhunderts noch durchaus üblich, steht Deutschland heute damit alleine da. Das aber immer noch erschreckend überzeugt, wie nicht nur die Vorgänge in Hamburg zeigen.
Die Kritik am selektiven deutschen Schulsystem ist fast so alt wie das System selbst. Schon 1848 tauchten erste Forderungen nach einer Schule für alle auf. Es dauerte dann aber noch mal 72 Jahre, nämlich bis zur Reichsschulkonferenz 1920, bis diese Frage ernsthaft diskutiert wurde. Als damals geradezu revolutionäres Ergebnis kam erstmals eine vierjährige Grundschule für alle dabei heraus. Vorher wurden Kinder bereits ab Klasse 1 getrennt und entweder auf die Volksschule oder auf private Vorschulen, die auf´s Gymnasium vorbereiteten und Schulgeld kosteten, geschickt. Der Zusammenhang zwischen Besitz und Bildung war also damals noch mehr institutionalisiert als heute. Die Proteste gegen die „Einheitsschule“ aber keineswegs leiser.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die alliierten Besatzungsmächte der Ansicht, dass das elitäre deutsche Schulwesen mitverantwortlich für den Aufstieg des Faschismus gewesen sei, da das gegliederte Schulsystem bei einer kleinen Gruppe ein Überlegenheits- und bei der Mehrzahl der Schüler ein Minderwertigkeitsgefühl auslöse, und wollten deshalb längeres gemeinsames Lernen bis Klasse 6 und eine Vereinheitlichung der weiterführenden Schulen herstellen. Während in der Ostzone dieses System realisiert wurde, schafften es die Behörden in den Westzonen jegliche Schulreformen so lange zu boykottieren und zu blockieren, bis letztlich doch das Schulsystem des Dritten Reiches weitgehend erhalten blieb. In den 70er Jahren wurden dann aber schließlich die ersten westdeutschen Gesamtschulen, hauptsächlich auf Betreiben der SPD, eingeführt. Während in Frankreich 1977 der bürgerlich-liberale Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing erfolgreich die Gesamtschule zur Regelschule machte, scheiterte dieser Versuch der SPD-FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen 1978 an einem von der CDU initiierten Volksbegehren.
Der „Pisa-Schock“ 2000 brachte dann erstmals wieder Bewegung in die Diskussionen um das deutsche Schulwesen. In diesem damals erstmals von der OECD durchgeführten Schulvergleich, landete das „Land der Dichter und Denker“ unterhalb des Durchschnitts. Gleichzeitig wurde deutlich, dass in keinem anderen Industrieland ein so starker Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen besteht wie in Deutschland. Statt aber daraus die Konsequenzen zu ziehen und mehr Menschen in den Bildungsprozess zu integrieren und also Gesamtschulen zu Regelschulen zu machen, setzten konservative Politiker auf noch mehr Elitenförderung. Die schwarz-gelbe Landesregierung in Niedersachsen unter Christian Wulff schaffte 2003 das dort bis dato übliche gemeinsame Lernen bis Klasse 6 zugunsten einer Selektion nach Klasse 4 ab und verbot die Gründung neuer Gesamtschulen, was bis 2008 andauerte. Bayern schickt seit 2006 Kinder die bei der Einschulung nicht ausreichend Deutsch sprechen gleich zur „Förderschule“.
Sinnvollere Ansätze kamen von der 2008 gebildeten schwarz-grünen Regierung in Hamburg. Die Grünen hatten unter den Slogan „Neun macht klug“ im Wahlkampf Werbung für ein gemeinsames Lernen bis Klasse 9 gemacht. Auch die CDU sah Reformbedarf an den Schulen, wollte diesen aber bei der Einführung von Stadtteilschulen, als Zusammenlegung von Haupt-, Real- und Gesamtschulen bewenden lassen. Als Kompromiss kam ein am 7. Oktober 2009 beschlossenes längeres gemeinsames Lernen bis Klasse 6 in neu zu schaffenden Primarschulen und die Einführung von Stadtteilschulen, die auch zum Abitur führen sollen, heraus. Die Gymnasien sollen erhalten bleiben und das Abitur schon nach Klasse 12 anbieten. Die Klassengröße soll auf 25 Schüler, in „Problemgebieten“ auf unter 20 reduziert werden. Außerdem soll künftig das „Sitzen bleiben“ und damit auch das „Abschulen“ abgeschafft werden. Dafür sollte dann aber auch das Elternwahlrecht wegfallen, d.h. Eltern sollte die Entscheidungsmöglichkeit auf welche weiterführende Schule ihr Kind gehen soll genommen werden. Das war wohl ein Fehler...
Als entschiedene Gegner der Hamburger Schulreform fand sich die bürgerlich-rechtspopulistische Initiative „Wir wollen lernen“ zusammen. Ihr Anführer war dabei der Blankeneser Rechtsanwalt Walter Scheuerl. Scheuerl war zuvor bereits als häufig frequentierter Anwalt und Sprecher, manche sagen auch Lobbyist, von Firmen in Erscheinung getreten, die mit dem Tierschutzgesetz in Konflikt geraten waren. Scheuerl schaffte es dabei häufig, dass am Ende nicht die Verursacher, sondern diejenigen, die Skandale von Firmen aufgedeckt hatten auf der Anklagebank saßen. Ein Fall war die Firma Landkost Ei, die Eier, die in Massentierhaltung „hergestellt“ wurden, als Bio-Eier verkauft hatte. Genau diesem Prinzip folgte nun auch die Scheuerl-Initiative „Wir wollen lernen“. Ein mieses Schulsystem wurde angepriesen und Selektion zynisch als „Bildungsvielfalt“ deklariert. „Wir wollen lernen“ organisierte Demos gegen die Schulreform u.a. mit Unterstützung des Schauspielers Sky du Mont. Ein Reformbefürworter der am Rande einer solchen Demo ein Schild mit der Aufschrift „Unterschicht grüßt Oberschicht – eure Schule wollen wir nicht“ trug, wurde dabei von einem Scheuerl-Anhänger zu Boden geschubst und verletzt. Scheuerl selbst bekämpfte seine Gegner wie gewohnt juristisch. Die Initiative Pro Schulreform schwärzte er bei Warner Bros. wegen Rechteverletzung aufgrund der Verwendung des Superman-Logos an und der Jungen GEW ließ er verbieten einen Flashmob mit Sky-du-Mont-Masken durchzuführen.
„Wir wollen lernen“ startete ein Volksbegehren gegen die Reform und war damit erfolgreich. Mit 184.500 Unterschriften übertraf sie deutlich die Hürde von 62.000 Unterschriften, die für ein erfolgreiches Volksbegehren nötig sind und an der die Initiative „Eine Schule für alle“ ein Jahr zuvor gescheitert war. Es folgten Verhandlungen zwischen Senat und „Wir wollen lernen“, die jedoch am absoluten Reformunwillen der Initiative scheiterten. Dafür jedoch besserte der Senat nach, führte das Elternwahlrecht wieder ein (welches auch wieder ein Abschulen vom Gymnasium nach Klasse 7 ermöglicht) und schaffte das Büchergeld ab. Dadurch wurden auch die Oppositionsparteien SPD und Die Linke. mit ins Boot geholt. Die Novellierung der Schulreform wurde am 3. März 2010 von der Bürgerschaft einstimmig beschlossen. „Wir wollen lernen“ bestand aber weiterhin auf einen Volksentscheid zur Primarschule.
Zu kämpfen hattte die Initiative vor allem mit ihrem elitären Image, welches durch einen Panorama-Beitrag nochmal bestätigt wurde. Ihre Motivation lag ohnehin auf der Hand: Ein reiches Bürgertum wollte verhindern, dass seine Kinder mit Migranten und Kindern aus „Hartz-IV-Familien“ in einem Klassenzimmer sitzen. So sah es auch Hamburgs konservativer Bürgermeister Ole von Beust: „Es kann nicht sein, dass die Wohlhabenden sich nur um ihre Interessen kümmern und diejenigen, die in einer schwierigen Situation leben, nicht einmal mehr die Hoffnung oder die Chance haben, dass es besser werden kann.“ Und: „Aber mich hat überrascht, dass manche so unverhohlen sagen: Wir wollen nicht, dass unsere Kinder länger als notwendig mit Kindern mit Migrationshintergrund zur Schule gehen. (…) Da tauchen, auch bei Bürgerlichen, unverhohlen Ressentiments auf“. Doch auch „Wir wollen lernen“ musste zurück rudern. Halluzinierten sie zu Anfang noch über eine Verstärkung sozialer Gegensätze durch die Stadtteilschulen, scheinen sie diese Schule mittlerweile zu akzeptieren. Nur die Primarschule musste nun als Hassobjekt herhalten.
Am Wahltag 18. Juli waren sie damit erfolgreich. Mit einem Ergebnis von 276.304 Ja-Stimmen gegen 200.093 Nein-Stimmen hat sich die rechtspopulistische Initiative klar gegen längeres gemeinsames Lernen durchgesetzt. Die Vorlage der Bürgerschaft, die eine 6-jährige Primarschule enthielt, kam auf 218.065 Ja-Stimmen und 260.989 Nein-Stimmen. Obwohl sich Erziehungswissenschaftler weitgehend einig sind, dass längeres gemeinsames Lernen sowohl für „starke“ als auch für „schwache“ Schüler besser ist, obwohl alle anderen europäischen Länder mindestens bis Klasse 6 gemeinsam lernen, obwohl alle in der Bürgerschaft vertretenen Parteien, die Gewerkschaften, die Kirchen und die Handwerkskammer die Schulreform unterstützten. Gegen die Schulreform agitierten, außer der Scheuerl-Initiative, hauptsächlich die FDP, die NPD und die Springer-Presse.
Die Grafik der Wahlbeteiligung zeigt, dass es vor allem nicht gelungen ist, die Profiteure der Schulreform in den ärmeren Stadtteilen zu mobilisieren. Hohen Wahlbeteiligungen in wohlhabenen Stadtteilen (60,3 % in Nienstedten, 58,8 % in Blankenese) stehen niedrige Wahlbeteilungen in „sozialen Brennpunkten“ gegenüber (25,3 % in Wilhelmsburg, 12,5 % in Billbrook).
Die grüne Bildungssenatorin Christa Goetsch wird in der Presse zitiert mit: „Ich muss ganz unsenatorisch sagen: Es ist ein ziemlicher Scheißtag und eine bittere Enttäuschung.“ So empfanden wohl auch alle Hamburgerinnen und Hamburger, denen an gerechten Bildungschancen für alle gelegen ist. Der 18. Juli war kein guter Tag war, für diejenigen die das extrem selektive deutsche Schulsystem endlich reformieren wollten. Es hat sich gezeigt zeigte, dass gegen den „Bürgerblock“ nicht mal eine Schule für alle bis Klasse 6 durchzusetzen war. Die Signalwirkung auf andere Bundesländer, insbesondere Nordrhein-Westfalen, dürfte verheerend sein.
Dennoch ist nicht alles verloren. Die Schulreform kommt, wenn auch in kastrierter Form. Die Stadtteilschulen werden künftig Haupt- und Realschulen ersetzen und zum Abitur nach Klasse 13 führen. Sitzenbleiben und Büchergeld werden abgeschafft und behinderte Kinder bekommen das Recht, eine allgemeine Schule zu besuchen. Dies konnte auch Scheuerl nicht verhindern. In Berlin hat Klaus Wowereit das Konzept der Hamburger Schulreform mit den Stadtteilschulen übernommen. Die 6-jährige Grundschule musste in Berlin nicht eingeführt werden, da sie seit 60 Jahren Realität ist. In Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern ist die Hauptschule auch bereits abgeschafft. In Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg musste die Hauptschule nicht abgeschafft werden, da sie dort nie eingeführt wurde.
Das Hamburger Wahldesaster bekam im übrigen noch dadurch einen bitteren Beigeschmack, da Bürgermeister Ole von Beust relativ überraschend zurücktrat und nun durch den Law-and-Order-Freak Christoph Ahlhaus ersetzt wird. Im Falle Walter Scheuerl wird jetzt über Parteigründungsambitionen gemunkelt. Als hätte Hamburg den ganzen Scheiß nicht schon einmal erlebt...
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